Biberacher Erklärung für eine menschenrechtliche und solidarische Flüchtlingspolitik in
Deutschland und Europa


„Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren“, schrieb die deutsche
Philosophin Hannah Arendt im Januar 1943 in einem Aufsatz mit dem Titel „Wir Flüchtlinge“. Und
weiter: „Die Hölle ist keine religiöse Vorstellung mehr und kein Phantasiegebilde, sondern so wirklich
wie Häuser, Steine und Bäume.“ Hannah Arendt war vor dem nationalsozialistischen Terror geflohen
und musste nun erfahren, was es heißt, Flüchtling zu sein; was dabei alles verloren geht, was zerstört
wird. Aber: Sie war gerettet, hatte Zuflucht in einem Land gefunden, dessen Grenzen sie schützten.
Heute müssen wir erleben, dass in einem Land, aus dem Hannah Arendt einst geflohen war,
Menschen als „Asyl-Touristen“ diffamiert werden und Menschen, die ihnen helfen wollen, als „Anti-
Abschiebe-Industrie“. Menschen, die ihre Heimat wegen Krieg, Terror, Menschenrechtsverbrechen,
sozialer und/oder wirtschaftlicher Not und Ausbeutung verlassen müssen, finden an den
europäischen Grenzen keinen Ort der Zuflucht mehr, sondern einen Ort der Abschreckung, des
Stacheldrahts – und des Todes.


Die Abschreckung, die Ablehnung und Abwehr, die sprachliche und politische Umwandlung von
Menschen in Zahlen und Statistikgrößen, die Entwicklung eines kollektiven europäischen
Asylverweigerungssystems, der Aufbau von Orten des Elends und der Entrechtung, die Pakte mit
diktatorischen Machthabern und autoritären Regimes, die sich freikaufen von Kritik oder Sanktionen
für ihre Verbrechen, all das zeigt sich als Abgesang auf die sonst so oft beschworenen europäischen
Werte: auf Menschenrechte, Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit. In diesem Rahmen erleben
wir keine „Flüchtlingskrise“, sondern eine fundamentale Menschenrechtskrise.
Die gegenwärtigen Angriffe richten sich nicht allein gegen Menschen auf der Flucht. Sie richten sich
gegen die zivile Gesellschaft und die Universalität der Menschenrechte schlechthin.

 

Diesen Entwicklungen setzen wir in der Region Biberach entgegen: die Idee – und die Realität – der
Menschenrechte, der Menschenwürde und der Rechtsstaatlichkeit. Wir brauchen ein offenes, ein
ehrliches, ein freundliches – kurz: ein menschliches Land. Wir brauchen eine gestärkte
Zivilgesellschaft, um mit Toleranz und Zivilcourage dem Hass und der Gewalt in diesem Land ein Ende
zu setzen, unsere Grund- und Menschenrechte zu bewahren und das Völkerrecht zu verteidigen.
Es genügt nicht mehr, auf die Erosion der Menschenrechte in unserem Land mit bloßer Betroffenheit
oder Kopfschütteln zu reagieren. Wir rufen dazu auf, der Zivilgesellschaft den Rücken zu stärken,
aktiv an ihr mitzuwirken und die Menschenrechtsorganisationen und Flüchtlingshelfer*innen zu
unterstützen. Kein „Staatsnotstand“ bricht aus, wenn Menschen auf der Flucht sind. Aber
Staatsnotstand bricht aus, wenn Menschen bei uns zum Freiwild werden. Es geht um die
Fundamente unseres Zusammenlebens – in Biberach und anderswo.